Vorbemerkung: Der Kultur/Kreativsektor ist von der „Corona-Krise“ besonders betroffen – auch, weil seine Strukturen und Beschäftigungsformen in vielfacher Hinsicht atypisch sind. Als kleines Expertenteam wollen wir den Blick für diese Zusammenhänge schärfen und der Öffentlichkeit, der Politik und den Medien zuverlässige Daten zur Verfügung stellen – und damit Hinweise für eine realistische und effektivere Gestaltung der „Hilfsprogramme“ bieten.
Interview Michael Söndermann für Bühnengenossenschaft (GDBA)
Welche längerfristigen Auswirkungen auf Arbeitsplätze wird Corona im Kulturbereich haben?
Der Coronavirus hat den Kultursektor schon jetzt schwer getroffen, insbesondere diejenigen, die direkt mit Publikum zu tun haben. Um die Auswirkungen längerfristig einschätzen zu können, muss man die Struktur des „Arbeitsmarktes Kultur“ in Augenschein nehmen. Er ist fragil, atypisch und flexibel. Es gibt nur relativ wenig Vollzeitbeschäftigte, der weitaus größere Teil sind sogenannte Solo-Selbstständige und atypisch Beschäftigte. Stichworte sind hier Teilzeit und/oder kurzfristige Beschäftigungen, oder „unständig“ Beschäftigte etwa bei Theater und Film oder „feste Freie“ bzw. „freie Freie“ beim Rundfunk. Mini-Jobs spielen auch eine Rolle.
Kurz, der Kultursektor gehört zu den Top 10 Branchen der Volkswirtschaft, bei denen der Anteil befristeter Beschäftigungen extrem hoch ist. Im Rundfunksektor liegt er bei 98,7% der jährlich begonnenen Beschäftigungsverhältnisse, im Filmsektor bei 96,7% und im Musik-/Darstellende Kunstsektor immer noch bei 84,3%. Diese Zahlen nennt die Bundesagentur für Arbeit für das Jahr 2017.
Es ist unwahrscheinlich, dass sich dieser Trend hin zu gut bezahlten Vollzeitjobs dreht. Die „Vollzeit“ ist aber eine Voraussetzung, um mit Kurzarbeitergeld einigermaßen gut durch eine solche Krise zu kommen. Längerfristig ist eher zu befürchten, dass sich im kulturellen Arbeitsmarkt die atypischen und flexiblen Beschäftigungsverhältnisse weiter ausbreiten werden.
In der aktuellen Krise ist auch immer wieder von der wachsenden Bedeutung digitaler Angebote die Rede.
Ob das Publikum in der „Zeit danach“ wieder zu seinen alten „analogen“ Gewohnheiten zurückkehren wird, ist nicht eindeutig zu beantworten. Es ist durchaus möglich, dass die steigenden Angebote von Streamingdiensten namhafter Kulturanbieter wie z.B. Berliner Philharmoniker, Bayerische Staatsoper oder auch Prime Video, DisneyPlus und vieler anderer nachhaltiger als bisher genutzt werden. Sie könnten zu ernsthaften Konkurrenten des „analogen“ Angebotes werden und zahlreiche Künstler/innen und Anbieter vom Markt drängen. Live-Angebote – Konzerte, Theater, Lesungen – könnten zunehmend zu einem Exklusivangebot für ein zahlungskräftiges Publikum werden.
Das Bundesfinanzministerium hat die Neustart-Hilfe für Solo-Selbständige als kraftvolle Unterstützung angekündigt. Die von Ihnen prognostizierten Zahlen sind dagegen ernüchternd. Woran liegt das?
Das Bundesfinanzministerium orientiert sich an traditionellen und vor allem industriellen Wirtschaftsstrukturen. Dort sind Freiberufler, Soloselbständige und Kleinstunternehmer im Gegensatz zum Kultursektor deutlich in der Minderheit. Der Streit um einen Unternehmerlohn versus Betriebskostenerstattung hat dies eindrücklich gezeigt. Freiberufler und Kleinstunternehmer haben in der Regel nur geringe Betriebskosten, der sogenannte Unternehmerlohn dient überwiegend dem Lebensunterhalt. Das Ministerium hat derlei fast neun Monate lang nur unter „unternehmerisches Risiko“ subsummiert. In der Neustarthilfe nimmt es zum ersten Mal die Problematik auf. Allerdings: vorausgesetzt, die Betroffenen sind überhaupt anspruchsberechtigt, können sie maximal 25 % des im Jahre 2019 erwirtschafteten Umsatzes bekommen, jedoch nicht mehr als allenfalls rund 700 Euro im Monat. Bei nüchterner Betrachtung ist das zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. (siehe auch: https://kulturwirtschaft.de/und-immer-noch-die-solo-selbstaendigen-nr-04/)
Soll heißen?
Das zugrunde liegende Wirtschafts- oder besser Berechnungsmodell wird den wirtschaftlichen und unternehmerischen Leistungen von Künstlern nicht gerecht. Selbständige Künstler und Kreative haben ein besonderes Tätigkeitsprofil: sie arbeiten in Mehrfachtätigkeiten (hybride Tätigkeiten), z. B. als Produzenten eigener Werke, als Dienstleister für andere Verwerter im Haupterwerb oder Nebenerwerb, und – falls dies zur Existenzsicherung nicht reicht – im Broterwerb in einem anderen oder auch nichtkulturellen Bereich. Dieses Patchwork passt nicht in die üblichen bürokratischen Raster wie man sie etwa in den Antragsformularen findet.
Was sollte stattdessen getan werden? Haben Sie einen anderen Vorschlag?
Die wirtschaftliche Leistung von Künstlern/innen muss in ihrer Komplexität und ihrer Mehrfachtätigkeit erfasst werden. Hier bietet sich etwa eine Orientierung an der Einkommenssteuererklärung an, die ja jedes Jahr dem Finanzamt vorgelegt wird. Das entscheidende Kriterium dabei ist, ob besteuerbare Dienstleistungen erbracht wurden. Unser Büro arbeitet derzeit an einer Modellberechnung. Dabei geht es grundsätzlich um die Gleichbehandlung aller Branchen der Volkswirtschaft und aller Freiberufler, Soloselbständigen, Kleinst- und Kleinunternehmen ebenso wie der mittelständischen- und Großunternehmen. Unabhängig davon geht es um eine längerfristige Strategie. Die bisher vorgesehenen Entschädigungen für den Umsatzeinbruch im Jahr 2020 sind zu kurzfristig gedacht.
Dabei sind aus unserer Sicht besonders zwei Aspekte zu berücksichtigen. Zum einen sollten die Einkommen aus 2019, dem Jahr vor der Krise, als Orientierung dienen. Zum zweiten sollte ein verlässlicher Ansprechpartner auf Seiten der staatlichen Bürokratie benannt werden. Aus unserer Sicht ist dies das Finanzamt. Es verfügt über entsprechende Informationen zu den besteuerbaren Aktivitäten eines jeden und muss ohnehin die Berechtigung der gezahlten Hilfen am Ende überprüfen.
Noch einmal zurück. Wenn wir Ihre Arbeiten richtig verstanden haben, ist der Anteil der Kultur- und Kreativwirtschaft an den Konjunkturprogrammen vergleichsweise gering. Woran liegt das?
Der Kultursektor gilt gemeinhin als eine nicht produktive, sondern eher konsumorientierte Branche. Er wird daher nicht den Schlüsselbranchen unserer Volkswirtschaft zugerechnet, wie z. B. die Automobilindustrie oder der Maschinenbau, die als systemrelevant für die gesamte Volkswirtschaft wahrgenommen werden. Nur ein Beispiel: Die Wirtschaftsweisen verweisen darauf, dass der wesentliche Teil unserer Wertschöpfung durch die Industrieproduktion erbracht wird. Die derzeit besonders betroffenen Branchen, wie z. B. Gastronomie und Hotelgewerbe, Kultursektor und Veranstaltungsgewerbe erbringen nach ihrem Urteil zusammen nur einen Wertschöpfungsanteil von wenigen Prozenten. Diese Einschätzung beeinflusst vermutlich die Bundesregierung bei der Bewertung der Gesamtlage. (siehe Redaktionsnetzwerk „Wirtschaftsweise: Kaum bleibende Wirtschaftsschäden durch Teil-Lockdown“ vom 28.11.2020)
Letzte Frage: Wie ist in diesem Zusammenhang die Ankündigung von Olaf Scholz von Kosten-Übernahmen für das zweite Halbjahr 2021 zu bewerten?
Diese Strategie erscheint uns sehr heikel. Die Erfahrungen der vergangenen Monate haben gezeigt, dass die Verbindlichkeit solcher Ankündigungen als flexibel eingestuft werden kann. Aus unserer Sicht wäre vor allem angezeigt, sich mit gerechten und transparenten Entscheidungskriterien zu befassen, wie wir sie oben andiskutiert haben. Sinnvoll wäre auch, sich mehr über andere staatliche Strategien zu informieren, die eine Aufrechterhaltung des vollen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens ermöglichen.
Für das Expertenteam,
Michael Söndermann, Büro für Kulturwirtschaftsforschung, Köln
Weitere Hintergrundinformationen:
https://kulturwirtschaft.de/kuenstlerische-und-kreative-berufe-in-der-coronakrise-2020/